„Mädchen werden später vor allem Hausfrau und Mutter, Jungen müssen in der Lage sein, als Familienvorstand mit ihrem Einkommen für Ehefrau und Kinder zu sorgen“ – diese in ihrem Ursprung bürgerlichen geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen spiegeln heute weniger denn je die Realität wider. So lässt sich etwa seit vielen Jahrzehnten bei Frauen schichtübergreifend eine Doppelorientierung auf Beruf und Familie beobachten. Auch für immer mehr Väter ist selbstverständlich, dass sie sich nicht nur in der Funktion als ‚Ernährer‘ um ihre Kinder kümmern wollen. Die Institution der Ehe, die lange ein Vorrecht heterosexueller Paare war, steht heute gleichgeschlechtlichen Paaren offen. Auch die gesellschaftlichen Normen der Zwei- und Cisgeschlechtlichkeit haben zumindest bis zu einem gewissen Grad an Verbindlichkeit verloren, wie an der zunehmenden Zahl von Personen deutlich wird, die öffentlich sichtbar als nicht-binär oder transgeschlechtlich leben. Vieles ist in Bewegung gekommen, was noch vor wenigen Jahrzehnten als selbstverständlich und/oder ‚natürlich‘ galt. Gleichzeitig sind geschlechtsbezogene Ungleichheiten, Diskriminierung und Gewalt keineswegs verschwunden. So weist etwa die rasante Ausbreitung des Hashtags #metoo darauf hin, wie verbreitet sexualisierte Übergriffe und Belästigung gegen Mädchen und Frauen weiterhin sind.
Vor dem Hintergrund dieser und weiterer Phänomene werden wir uns im Seminar mit dem Zusammenhang von Geschlechterverhältnissen und gesellschaftlichem Wandel auseinandersetzen. Anhand von theoretischen Texten, empirischen Befunden und Filmmaterial werden wir uns u.a. mit den folgenden Fragen beschäftigen: Inwiefern lässt sich in zeitdiagnostischer Hinsicht überhaupt von einem Wandel der Geschlechterverhältnisse sprechen? Was genau verändert sich – oder auch nicht? Und wie hängen die Entwicklungen der Geschlechterverhältnisse mit breiteren gesellschaftlichen Prozessen und Strukturen zusammen?